Bericht von der Podiumsdiskussion der ASG Hessen-Nord am 8. Februar 2023

Es stehen gravierende Änderungen im Gesundheitswesen bevor: eine Reform der Finanzierung der Krankenhausbehandlung steht kurz bevor, die Menschen sorgen sich um die Lieferschwierigkeiten bei der Medikamentenversorgung und die Digitalisierung hält Einzug auch im Gesundheitssektor. Diese und noch einige Themen mehr wie die Einführung einer Innovation namens „Gesundheitskiosk“ erörterten Fachexperten aus ganz Deutschland in einer Podiumsdiskussion der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen (ASG) im SPD-Bezirk Hessen-Nord.

Neben dem Leiter der Leitungsabteilung des Bundesgesundheitsministerium, Boris Velter, waren mit Dr. Helmut Hildebrandt Geschäftsführer des AK Gesunder Werra-Meißner-Kreis, Dr. Müller-Rebstein (Inhaber der Landgraf-Karl-Apotheke Kassel), Dr. Matthias Hughes (Hausarzt/Internist mit Notarzt- und Oberarzterfahrung im Krankenhausbereich) und dem im Landkreis Kassel für den Gesundheitsbereich zuständigen Harald Kühlborn namhafte „Praktiker“ auf dem Podium. Durch die Veranstaltung führte die ASG-Bezirksvorsitzende Olga Fischer.

Zur Krankenhausreform – die sog. DRGs sollen ja neu geregelt werden, damit die Arbeit der Kliniken mehr nach medizinischen statt nach wirtschaftlichen Kriterien bezahlt werden sollen, führte Boris Velter, Bundesvorsitzender der ASG, aus, dass es sich dabei um ein hoch komplexes und sehr kompliziertes Thema handeln würde. Menschen, die vorpreschen und einfache Lösungen verkünden, würden den Menschen falsche Versprechungen machen.

Warum soll die Änderung kommen: Die Ökonomisierung, insbesondere aber die Privatisierung, wurde übertrieben, das hat der Vergleich zu anderen Ländern insbesondere in der Pandemie gezeigt. Künftig soll nach dem Willen der Ampel-Koalition wieder der Mensch (Patient*innen wie Mitarbeiter*innen!) das zentrale Gut der Versorgung sein. Dafür fehlt es aber an Beschäftigten. Hier haben die privaten wie kommunalen Träger von Kliniken die Aufgabe, mehr in die Mitarbeiter-Ausbildung und die -gewinnung zu investieren. Die Beschäftigten kamen sich vor wie im Hamsterrad und es wurden ihnen oftmals nur mit einem Applaus gedankt – wenn überhaupt.

Die Fehlsteuerungen der letzten Jahre sind offen durch die Winterwelle 2022/23 der Atemwegserkrankungen zu Tage getreten. Die Behandlung von Kindern ist „nicht so lukrativ“ wie ein Herzkatheter – das muss und wird sich mit der Reform ändern.

Auch die von den Bundesländern vielfach einfach unterlassenen Infrastrukturausgaben, sowie die vom System falsch gesetzten Anreize, hatten zur Folge, dass vielfach zu häufig „zweifelhafte“, aber lukrative Behandlungen durchgeführt wurden.

Künftig soll ein Großteil der Mittel der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eher als Vorsorgemittel ausgegeben werden. Wörtlich führte Velter aus: „Man kürzt ja auch nicht der Feuerwehr Geld, weil es nicht gebrannt hat!“ Gesundheit gehört für uns Sozialdemokraten zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Dafür sei eine Fachkommission gebildet worden, die absichtlich nicht mit den sonstigen Experten (Kassenärztliche Vereinigung, Krankenhausgesellschaft usw.), sondern mit 17 Fach-Experten gebildet wurde. Ihr Vorschlag: Schaffung von 3 Leveln .
1. Uni-Kliniken
2. Maximalversorger
3. Mindeststandard-Versorgung
Ganz wichtig für kleine Kliniken: Es soll eine Pauschale zur Finanzierung der „Vorhaltekosten“ bezahlt werden, da diese Kosten für kleine Kliniken im ländlichen Raum „erdrückend“ seien.

Für die Planung sei aber eminent wichtig: sie muss bedarfsorientiert auf regionaler Ebene passieren. Weder Berlin noch Wiesbaden (für Hessen) wissen wirklich, was z.B. in Nordhessen gebraucht wird!

Dem stimmt auch Harald Kühlborn vom Landkreis Kassel zu. Allerdings gab er zur Einführung der Level zu bedenken, dass sie den ländlichen Kliniken kaum helfen, im Gegenteil, sie würden damit eher sogar ein wenig ins Hintertreffen geraten. Das konterte Boris Velter mit den Worten „Wartet mal ab, was da am Ende des Gesetzgebungsverfahren rauskommt“.

Für den Landkreisverantwortlichen war wichtig, dass die engen Grenzen zwischen ambulantem und stationärem Bereich endlich aufgebrochen werden. Er wies daraufhin, dass die Betreuung der Patienten, die pflegerisch aufwendig sind, viel besser bezahlt werden muss. Das ergänzte ASG-Vorstandsmitglied Heiko Weiershäuser: es ist für unseren Staat ein Armutszeugnis, wenn Kliniken sagen, einen 80-jährigen, der mit unklaren Beschwerden aus dem Altersheim eingeliefert wird, der 3 tagelang aufgepäppelt werden und dabei mehrfach gepflegt muss, wird nur zu einem Drittel von dem bezahlt, was wir für einen Herzkatheter bekommen, wo der Patient schon am nächsten Tag nach Hause kann.

Der Landkreis versuche nicht nur, die beiden Kreiskliniken auf den wirtschaftlich erfolgreichen Weg zu führen, sondern befindet sich seit 2015 im Gespräch mit niedergelassenen Ärzten über Nachfolgemöglichkeiten. Das ist besonders wichtig bei Berücksichtigung der aktuellen Lage: 80% Absolventen der Universitäten sind weiblich. Und sie wollen eine „gute Work-Life-Balance“, daher verspüren die meisten Absolvent*innen keine große Lust, eine eigene Praxis zu führen – und schon gar nicht auf dem flachen Land.

Daher hat der Landkreis eine Kooperation bei einem MVZ und der Kassel School of Medicine (KSM). Wir wollen die Absolvent*innen zum Ende des Studium versuchen, für uns im ländlichen Raum zu gewinnen, sagt Harald Kühlborn.

Olga Fischer erkundigte sich dann bei Dr. Hildebrandt über den Aufbau von Gesundheitskiosken und welche Rolle sie leisten können? Er führte aus, dass sie im Gesundheitswesen eine wichtige präventive Rolle einnehmen können. Sie können als „Beratungspunkt“ den Lebenszyklus von Menschen verändern, nämlich die Gesundheit besser zu fördern. Es soll sich dahingehend ein neuer Ansatz ergeben, nämlich ein patientenorientiertes und nicht wie bisher ein krankheitsorientiertes Gesundheitswesen. Auch er befürwortete die Stärkung der lokalen Ebene, da sie das regionale Interesse im Gesundheitswesen besser kenne und unterstützen könne. Dies hätten Pilot-Versuche in Hamburg (in einem „armen“ Stadtteil), im Schwalm-Eder- und im Werra-Meißner-Kreis deutlich gezeigt.

Der Name „Kiosk“ mag zwar ungewöhnlich erscheinen, so Dr. Hildebrandt, doch der Begriff ist vom osteuropäischen bis weit in den asiatischen/orientalischen Raum hinein als „Beratung“ bekannt, so dass er ganz bewusst für diesen Beratungspunkt ausgewählt wurde. Die Ampel hat die Einführung bereits in einem Gesetzentwurf, der bald kommen soll, in Arbeit.

Dr. Matthias Hughes wurde nach der Digitalisierung im Gesundheitswesen gefragt und wie die Ärzteschaft dazu steht. Er war ein Freund klarer Worte und sagte: „Die Ärzte wünschen sich mehr Digitalisierung, nur das jetzt eingeführte System ist komplett für die Tonne – es beschert nur Zusatzarbeit, weil es auf einem 20 Jahre alten Softwareprogramm basiert.“ Der Chaos-Computer-Club hat vorgemacht, wie man binnen 2 Wochen nicht nur das System aushebeln, sondern es sogar fit für die Zukunft machen könnte – das wurde sogar durch die Prüfstelle attestiert. Trotzdem halte man stur an der Uralt-Technologie fest.

Die Digitalisierung muss den Menschen helfen, unnötige Doppeluntersuchungen zu vermeiden und sollte den Ärzten mehr Zeit für den Menschen bringen. Leider sei das Gegenteil der Fall.

Dr. Müller-Rebstein ging auf die Frage ein, warum in den letzten Jahren immer größere Schwierigkeiten bei der Versorgung mit der Medikamenten – und jetzt sogar bei Krebspatienten und Kindern – aufgetreten seien. Er beantwortete es anekdotisch: „Dass Aspirin nicht verfügbar ist, liegt daran, dass der Klebstoff der Plastikverpackung der Medikamente zur Zeit nicht aus China geliefert werden kann (wegen Pandemie) und die Zulassung eines Ersatzklebers durch die deutsche Aufsicht jedoch abgelehnt worden ist!“ Darüber hinaus hätten Rabattverträge zwar für enorme Einsparungen bei den Krankenkassen gesorgt, aber auch dafür gesorgt, dass viele Firmen aus diesem „Preis-Unterbietungswettbewerb“ ausgestiegen seien und ihre Produktion in Billiglohnländer verlegt hätten!

Wörtlich sagte er: „Es erfordert mehr Regulierung von systemrelevanten Medikamenten, aber weniger Preiskampf, denn Produzenten liefern eben dahin, wo die höchsten Preise gezahlt werden – das ist eben Marktwirtschaft. Man kann nicht einfach so den Schalter umlegen, um wieder in Deutschland zu produzieren. Das dauert – auch wegen der überbordenden Bürokratisierung (das Zulassungsverfahren z.B. des Ersatzklebers dauert durch geforderte Studien ewig!)“

Auch die vielen Besucher im voll besetzten Saal im Haus der Kirche konnten sich an der Diskussion beteiligen. So wurde u.a. Themen wie Speicherung von Röntgen-/MRT-Bilder auf der Krankenversicherungskarte ebenso angefragt wie die Tatsache, dass Deutschland noch weit hinter Vietnam in der Entwicklung der Digitalisierung und des Netzausbaus liege, was zu einer erheblichen Hemmschwelle bei digitalen Patientenakten werden könne.

Und so nahm dann auch Boris Velter eine riesige Portion Input aus der Praxis mit auf die Heimreise nach Berlin und die anderen Podiumsteilnehmer und die Besucher die Hoffnung mit nach Hause, dass die vielen Hinweise vielleicht dann alsbald in die Arbeit des Gesundheitsministerium einfließen mögen.

AG-Vorsitzende Fischer blickt zuversichtlich in die Zukunft und sagt: „Wenn alle so, wie hier heute bei der Podiumsdiskussion, zusammenarbeiten, dann mache ich mir trotz der Vielschichtigkeit und Komplexität des Gesundheitswesen vor der Zukunft keine Sorgen.“