125 Jahre Dr. Elisabeth Selbert

von Sebastian Janovsky

Die Arbeiterklasse braucht im Kampf die Kräfte der Frauen und umgekehrt, die Frauen im Kampf um ihre Frauen-, ihre Menschenrechte die Kräfte der Arbeiterklasse, der Sozialdemokratie“[1]

Aus den Reihen der nordhessischen Sozialdemokratie gingen mehrere namhafte Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen hervor. Dazu zählen beispielsweise der Reichsministerpräsident der Weimarer Republik Philipp Scheidemann oder der Kasseler SPD-Pionier Wilhelm Pfannkuch.[2] Für die Stellung der Frauen in unserer heutigen Gesellschaft spielt das Wirken der Sozialdemokratin Elisabeth Selbert eine besondere Rolle.

Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1896-1918

Am 22. September 1896 in Kassel als Martha Elisabeth Rohde geboren, war sie die zweite von vier Töchtern des Justizbeamten Georg Rohde und seiner Ehefrau Elisabeth.[3] In dieser kleinbürgerlich und streng protestantisch geprägten Familie besorgte Martha Elisabeth Rohdes Mutter traditionell den Haushalt und die Versorgung der Kinder, während der Vater als Gefangenenaufseher für das Einkommen der Familie sorgte.[4] Nach dem Besuch der Volksschule in den Jahren 1903-1907 wechselte Martha Elisabeth Rohde auf die Realschule, welche sie von 1907-1912 besuchte. Zwar wurde sie aufgrund ihrer guten Leistungen von den Schulgeldzahlungen befreit, doch musste sie, wie damals für Mädchen üblich, die Realschule ohne Zeugnis und mittlere Reife verlassen.[5] Dies bezeichnete sie später selbst als „bitteres Unrecht.“[6] Da ihre Eltern nicht imstande waren, ihrer Tochter den Besuch einer höheren Handelsschule oder gar den eines Gymnasiums zu finanzieren, besuchte Martha Elisabeth Rohde für ein folgendes Jahr die Kasseler Gewerbe- und Handelsschule des Frauenbildungsvereins. Eine darauf folgende Stelle als Fremdsprachensekretärin in der Import- und Exportfirma Salzmann & Co verlor sie mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs.[7] Durch die massenhafte Einberufung männlicher Arbeitskräfte zum Kriegsdienst mussten Frauen nun deren Rolle in vielen Bereichen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens übernehmen. Davon begünstigt erlangte sie 1916 eine Stelle im mittleren Telegrafendienst als Postgehilfin der Reichspost.[8] Dort lernte sie den Buchdrucker Adam Selbert kennen[9], wobei Trösch und Haunhörst diese Verbindung in die Zeit der Novemberrevolution des Jahres 1918 verorten.

Weimarer Republik 1919-1933

Nach mehreren Besuchen sozialdemokratischer Veranstaltungen entschloss sich Martha Elisabeth Rohde in die SPD einzutreten. [10] Hierbei soll sie Adam Selbert maßgeblich beeinflusst haben, welcher selbst SPD-Mitglied gewesen ist und den sie am 2. Oktober 1920 heiratete. Daraufhin engagierte sich die nunmehrige Elisabeth Selbert gemeinsam mit ihrem Mann in Kassel und Niederzwehren für die Mobilisierung der Frauen, die sie im Zuge des neu erlangten Frauenwahlrechts zum Gebrauch desselben aufrief.[11] Seit 1918 Mitglied im Vorstand des SPD-Bezirks Kassel und seit 1919 Mitglied im Gemeindeparlament Niederzwehren[12], stellte sie fest, dass eine politische Mitarbeit fundierte fachliche Kenntnisse voraussetzte.[13] Um traditionelle Frauenbilder zu überwinden, ließ sich Elisabeth Selbert dazu nicht in den für Frauen typischen Bereich der Fürsorge, sondern in den von Männern dominierten Finanz- und Steuerausschuss wählen.

Außerdem wohnte sie dem SPD-Parteitag vom 9. bis 16. Oktober 1920 in Kassel als Delegierte bei. Hier forderte sie vehement die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, welche ihrer Meinung nach nur „eine papierinterne“ sei. Als Delegierte der Frauenkonferenz in Berlin äußerte sich die nun zweifache Mutter besorgt über den Wahlerfolg der antidemokratischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und sah das Frauenwahlrecht in Gefahr.[14]

Von diesen Geschehnissen vermutlich beeinflusst, entschloss sich Elisabeth Selbert das Abitur an der Luisenschule nachzuholen, welches sie im Jahr 1926 als erste weibliche externe Kandidatin in Kassel bestand. Im selben Jahr begann sie ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Marburg und Göttingen, welches sie in der Regelstudienzeit von sechs Semestern abschloss. Im siebten Semester folgte ihre Dissertation über das Thema „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund.“ Innerhalb dieser Zeit konnte sie auf die Unterstützung ihres Ehemannes und ihrer Eltern bauen, welche sie im Haushalt entlasteten.[15]

Während ihrer Studienzeit war sie nach Trösch und Haunhörst eine von fünf Frauen gegenüber 295 männlichen Studenten[16], während das hessische Ministerium für Soziales und Integration sie als einzige weibliche Studentin benennt.[17]  Über die nun folgenden Jahre bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 ist lediglich bekannt, dass Elisabeth Selbert ihr Referendariat in Kassel absolvierte. Zusätzlich intensivierte sie ihr politisches Engagement.[18]

Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg 1933-1945

Im Frühjahr 1933 kandidierte Elisabeth Selbert für einen Sitz im Reichstag, doch erhielt die SPD nicht die nötigen Stimmen für einen Einzug Elisabeth Selberts.[19] Da Adam Selbert als stellvertretender Bürgermeister von Niederzwehren aufgrund seiner Parteizugehörigkeit von den Nationalsozialisten zwangsweise in den Ruhestand versetzt wurde, musste die Familie fortan vom Einkommen Elisabeth Selberts leben. Zudem wurde Adam Selbert im Konzentrationslager Breitenau in Schutzhaft genommen, wobei es seiner Ehefrau jedoch gelang, ihn mit „juristischen Argumenten“ aus der Haft zu befreien.[20]

Im Oktober 1934 gelang es Elisabeth Selbert nach ihrem zweiten Staatsexamen eine ehemals von zwei jüdischen Anwälten geführte Kanzlei zu übernehmen und offiziell als Anwältin zugelassen zu werden.[21] Zwar war es ein Ziel der nationalsozialistischen Machthaber, Frauen aus dem Anwaltsberuf zu vertreiben[22], doch sprachen sich zwei ältere Richter des Kasseler Oberlandesgerichts für die Zulassung Elisabeth Selberts aus und unterzeichneten diese in Abwesenheit des Präsidenten. So konnte Elisabeth Selbert noch im selben Jahr ihre eigene Kanzlei am Königsplatz 42 mit dem Schwerpunkt auf dem Familienrecht in Kassel eröffnen.[23]

Nach dem Krieg berichtete Elisabeth Selbert, wie SA-Leute in Gerichtssälen saßen und die Gestapo die Prozesse überwachte.[24] Sie berichtete dabei aber auch von „kleinen Widerstandshandlungen“ einzelner Anwälte, welche versuchten ihre Mandanten z. B. vor einer Haft in Konzentrationslagern zu bewahren[25] oder vor Zwangsarbeit und Dienstverpflichtungen.[26] Am 22. Oktober 1943 wurde die Kanzlei beim Großangriff der Royal Air Force auf Kassel zerstört, was einen Umzug Elisabeth Selberts und ihres Mannes im Jahr 1944 nach Melsungen zur Folge hatte.[27] Von hier aus erlebten die Selberts die Befreiung  Kassels durch US-amerikanische Truppen im April 1945 und das Ende des Dritten Reichs im darauffolgenden Mai.[28]

Nachkriegszeit 1945-1949

Als „politisch unbelastet“ konnte Elisabeth Selbert ihre Tätigkeit als Anwältin unter der amerikanischen Besatzungsmacht im Jahr 1945 wieder aufnehmen.[29]  Aufgrund ihrer Englischkenntnisse wurde Elisabeth Selbert von der amerikanischen Militärregierung damit beauftragt, am Wiederaufbau von Justiz und Verwaltung in Kassel mitzuwirken.[30] Gleichzeitig begann Elisabeth Selbert ihr politisches Engagement wiederaufleben zu lassen. So war sie ab 1945 Mitglied der SPD und ab 1946 Mitglied der Stadtverordnetenversammlung in Kassel. Außerdem engagierte sich Elisabeth Selbert überregional, wobei sie seit 1946 als Abgeordnete der Verfassungsberatenden Landesversammlung Groß-Hessens tätig war.[31]

Bereits im März 1946 wandte sich Elisabeth Selbert unter der Rubrik „Die Stimme der Frau“ in der „Frankfurter Rundschau“ an die Öffentlichkeit. Strikt kritisierte sie die Gegner des Frauenwahlrechts und betonte dessen Wichtigkeit für den Sinn der Demokratie. Gleichzeitig stellte sie das Fehlen von parteipolitisch engagierten Kandidatinnen im Verhältnis zu den Wählerinnen fest und appellierte an die Frauenverbände, für eine staatsbürgerliche Schulung der Wählerinnen Sorge zu tragen.[32] Gleichwohl beschäftigte auch die Frage der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau die Arbeit der verfassungsberatenden Landesversammlung in Hessen.[33] Hierbei setzte sich Elisabeth Selbert für die gleiche Entlohnung von Mann und Frau ein, unterlag dabei jedoch. Dennoch sollte sich Elisabeth Selbert bis in die 1970er Jahre für die gleiche Entlohnung beider Geschlechter engagieren.[34]

Als 1948 ein Grundstatut für die Westzonen formuliert werden soll, beginnt für Elisabeth Selbert, die sich selbst „Staatsrechtlerin aus Passion“ nannte, wahrscheinlich die wirkungsmächtigste Zeit ihres Lebens. Auch wenn sie sich von einem gerade erst im März desselben Jahres erlittenen Herzanfall erholt hatte, wurde sie im August vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold offiziell zur Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates nach Bonn und damit zu dessen Ausarbeitung unseres heutigen Grundgesetzes eingeladen.[35]

Im Vorfeld musste Elisabeth Selbert jedoch einige Schwierigkeiten überwinden. Ihre Teilnahme an den Gesprächen des Parlamentarischen Rates war nämlich alles andere als sicher, da sie von ihren hessischen Parteifreunden nicht empfohlen wurde. Erst Kurt Schumacher machte sich dafür stark, die qualifizierte Fachkraft aus Hessen über die niedersächsische Liste für den Rat empfehlen zu lassen.[36] Elisabeth Selbert fühlte sich dabei weder als Vertreterin Niedersachsens noch Hessens, sondern als Vertreterin des ganzen Volkes. Im Parlamentarischen Rat war sie neben Helene Wessel (Zentrum), Helene Weber (CDU) und Friederike Nadig (SPD) eine von vier weiblichen Delegierten neben den 61 männlichen.[37]

Der Rat trat am 1. September 1948 im Bonner Museum Alexander König zusammen, einem bis heute bekannten Naturkundemuseum. Elisabeth Selbert schilderte die Szenerie später als bedrückend, indem sie äußerte: „Es war nicht etwa Freude oder das Gefühl, jetzt endlich frei zu sein. Es war bedrückend, weil man sich sagte: Du bist hierher gerufen worden, und nun sollst du auf Kommando etwas tun.“[38] Als Mitglied im Ausschuss des Verfassungsgerichtshofs und in dem der Rechtspflege, befasste sich die Juristin nur am Rande mit frauenrechtlichen Themen. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als die Frauenreferentin im Parteivorstand der SPD Herta Gotthelf, eine Bitte an Elisabeth Selbert verfasste, in der ihr angeboten wurde, einen Vortrag über die „Rechtsstellung der Frau zu halten.“[39]

Gleiche Rechte – Ohne Wenn und Aber!

Ausgehend von ihren Erfahrungen bei den Beratungen der Hessischen Verfassung, die lediglich die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz vorsah und damit für Frauen im Grunde keine Verbesserungen zur Zeit vor dem Nationalsozialismus brachte, verfolgte Elisabeth Selbert die nun aufkommende Grundrechtsdebatte aufmerksam. Weder der Verfassungsentwurf noch die Vorschläge der SPD-Delegierten Carlo Schmid und Walter Menzel sahen eine umfassendere Regelung dieser Frage im Sinne der Frauen vor.[40]  Zu jener Zeit hatten die Alliierten zwar die „offenkundigsten“ rassistischen und bevölkerungspolitischen Veränderungen der Nationalsozialisten aus den Gesetzbüchern entfernen lassen, aber so galt das BGB des Kaiserreichs und die damit verbundenen Benachteiligungen der Frauen weiter. Damit wurde auch in der Nachkriegszeit der Mann weiterhin als Haupt der Familie rechtlich bestätigt, der beispielsweise den Wohnort bestimmte oder über das Vermögen seiner Ehefrau verfügte. Der Ehefrau wurde allenfalls zugestanden, lediglich Entscheidungen „im Sinne des Mannes“ zu treffen.[41]

Zusätzlich erschwerend kam der Umstand hinzu, dass die Forderung nach einer Gleichstellung von Mann und Frau nicht zum traditionellen Grundrechtskatalog der damaligen SPD gehörte. Bis dahin standen eher wirtschaftspolitische Fragen im Mittelpunkt der Diskussionen und Forderungen der Grundrechte.[42] Die Sozialdemokraten sahen zu jener Zeit ökonomische und soziale Faktoren als Ursache für die traditionelle Ungleichheit und drängten daher vordergründig auf eine gleiche Entlohnung von Mann und Frau. Zwar war es der SPD seit dem Erfurter Programm von 1891 ein wichtiges Anliegen, das Wahlrecht der Frau und ihre rechtliche Gleichstellung voranzubringen, doch blieb die grundsätzliche Gleichstellung bis in die Nachkriegsjahre unerfüllt.

Nun kämpfte die SPD vorrangig unter anderem für Themen, wie eine staatliche und wirtschaftliche Neuordnung, die Trennung von Staat und Kirche oder die Friedenspflicht. Daher musste Elisabeth Selbert große Überzeugungsarbeit bei ihren Parteifreunden für ihr Unterfangen leisten. Später äußerte sie: „Es hat lange gedauert, bis ich mich in der eigenen Fraktion durchsetzen konnte und im Hauptausschuss den Kampf mit den Gewalten aufnahm.“[43] Doch auch von den anderen Parteien bekannte sich keine zu den von Elisabeth Selbert vorgebrachten Forderungen und selbst unter den vier weiblichen Abgeordneten stand die Juristin zunächst allein mit ihrem Antrag da. Folglich wurde ihre Formulierung von Artikel 3, Absatz 2 – „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – anfangs von der Mehrheit des Hauptausschusses am 5. Oktober 1948 abgelehnt.

Nun forderten die CDU-Parlamentsmitglieder: „Das Gesetz muss Gleiches gleich, Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln.“[44] Doch Elisabeth Selbert blieb standhaft und initiierte maßgeblich unter Mitwirkung vieler anderer Frauen eine öffentlichkeitswirksame Kampagne, welche Eingaben, Petitionen und Protestschreiben an den Parlamentarischen Rat beinhalteten. Daher richtete sich Elisabeth Selbert an die Mitglieder des Parlamentarischen Rates und sprach von einem „Sturm“ und wenig später von einem „Trommelfeuer“ von Petitionen, Resolutionen und Telegrammen. Eine Eingabe aus der Gemeinde Dörnigheim bei Hanau soll hierbei stellvertretend für den Willen der Frauen im Nachkriegsdeutschland stehen:

„Wir Gemeindevertreterinnen und Mitarbeiterinnen sämtlicher kommunaler Ausschüsse und in voller Einstimmung die volljährige weibliche Einwohnerschaft der Gemeinde Dörnigheim stellen uns kompromisslos hinter den Antrag der weiblichen Abgeordneten des hessischen Landtages.“[45]

Elisabeth Selbert reiste parallel durch die im Entstehen begriffene Bundesrepublik und propagierte ihre Ideen unter anderem als Hauptreferentin über das Thema „Rechtliche Absicherung der Gleichberechtigung“ auf einer SPD-Frauenkonferenz in Wuppertal. Gleichzeitig erhielt sie auch Unterstützung von der Presse, wo ihr Vortrag „Die Rechtsstellung der Frau“ in der Zeitschrift „Die Genossin“ veröffentlicht wurde.[46]

Die Sozialdemokratin beschritt für ihre Kampagne auch unkonventionelle Wege. So wendet sie sich an die Frauen der CDU-Mitglieder, um auf privater Ebene Druck auf die Abgeordneten auszuüben. Mit Erfolg: Am 6. Dezember schreibt sie an Herta Gotthelf, dass die angesprochenen Ehefrauen „bereits gegen ihre eigenen Männer meutern.“ Zwar ist die Mehrheit der Bevölkerung mit den Vorbereitungen auf das kommende Weihnachtsfest beschäftigt, doch tut dies dem Beschwerdeansturm keinen Abbruch. Zwar bevorzugt die Mehrheit der Wählerinnen traditionell bis dahin eher konservative Parteien, doch gelingt es Elisabeth Selbert, auch diese Frauen anzusprechen und so eine breitere Front als bisher zu organisieren.[47] Hierbei muss aber unbedingt angemerkt werden, dass bei genauerer Betrachtung gerade einmal 46 Eingaben zum Thema Gleichberechtigung nachgewiesen wurden und davon gerade einmal 2/3 den Parlamentarischen Rat vor der entscheidenden Abstimmung im Januar 1949 erreicht haben.[48]

So stellt sich die Frage, wie es Elisabeth Selbert schaffen konnte, trotz aller Widrigkeiten die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau im Grundgesetz zu verankern. Hierzu scherte sie nicht nur mit ihrer vorangegangenen Kampagne zum Unwillen Kurt Schumachers mutig aus der Parteilinie aus, sondern kreierte einen Bluff.  Bis dahin war es Elisabeth Selbert nämlich noch nicht einmal gelungen, die weiblichen Abgeordneten des Hessischen Landtages, dem sie selbst angehörte, hinter sich zu bringen. Auch die weiblichen Abgeordneten in KPD, SPD und CDU einigten sich keinesfalls in vollem Umfang auf ihren Antrag. Die weiblichen Abgeordneten formulierten zwar eine gemeinsame Eingabe, diese war aber juristisch so schwach, dass sie Elisabeth Selbert nicht gefiel. Zuerst hielt sie diese Eingabe zurück, um ihre Position im Parlamentarischen Rat nicht zu schwächen, und behauptete dann einfach, dass alle weiblichen Abgeordneten bis auf die bayrischen den SPD-Antrag unterstützen würden.

Im nächsten Schritt unterschlug sie die Eingaben von Frauenverbänden, welche den Gegenantrag der CDU unterstützten, ebenfalls und behauptete, dass diese den SPD-Antrag unterstützen würden.[49] Somit muss die bisherige Legende von Wäschekörben „voller Eingaben“ in Zweifel gezogen, wenn nicht sogar verworfen werden. Dennoch gelang es Elisabeth Selbert, enormen politischen Druck aufzubauen.[50] Als Juristin rhetorisch geschult, ging es ihr vor allem darum sozialdemokratische Inhalte durchzusetzen. Dies gelang ihr wohl nur mithilfe ihrer geschickt geführten Kampagne und der Tatsache, dass sie den Protest größer erscheinen ließ als er in Wirklichkeit gewesen sein mag. Doch noch gewichtiger erscheint die Annahme, dass es ihr gelang, die Abstimmung im Parlamentarischen Rat zusätzlich zu einer Frage der Moral zu stilisieren. Zu einer Abstimmung für oder gegen die Interessen der Frauen ihrer Zeit.[51]

Am 18. Januar 1949 war es dann endlich soweit, Elisabeth Selberts großer Tag war gekommen. An jenem Tag wurde der Artikel im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rats zur zweiten Lesung erneut eingebracht. Hierbei setzten sich auch nunmehr die CDU-Abgeordneten für Elisabeth Selberts Vorschlag ein und erweckten den Eindruck urplötzlich von Anfang an nichts anderes als die Gleichberechtigung von Mann und Frau gewollt zu haben. Elisabeth Selbert quittierte den „Sinneswandel“ der Konservativen mit Genugtuung und erachtete es als ihre „Ehrenpflicht“, den Frauenverbänden für ihre Unterstützung zu danken. Elisabeth Selbert konnte den größten Triumph ihres Lebens feiern, sie hatte „Geschichte geschrieben.“

Am 19. Januar 1949, einen Tag nach der Annahme des Antrags im Hauptausschuss, wandte sich die SPD-Politikerin per Radioansprache an die Bürgerinnen und Bürger. Sie nutzte die bestehende Aufmerksamkeit bezüglich des Themas, um den künftigen Bundestag an die Wichtigkeit der Umsetzung des beschlossenen Antrags zu erinnern. Jahre später erinnerte sich Elisabeth Selbert und resümierte: „[…] Ich hatte einen Zipfel der Macht in meiner Hand gehabt und den habe ich ausgenützt, in aller Tiefe, in aller Weite, die mir theoretisch zur Verfügung stand. Es war die Sternstunde meines Lebens, als die Gleichberechtigung der Frau damit zur Annahme kam.“[52]

Die Bundesrepublik 1949-1986

Ein wichtiger Schritt war getan und es erwies sich als überaus weise, dass die Abgeordneten auf das Wirken Elisabeth Selberts hin eine Übergangsregelung ins Grundgesetz schreiben ließen, worin der kommende Bundestag zur Umsetzung des Artikels in geltendes Recht verpflichtet wurde. Dabei war es die Pflicht des Bundestags, dies bis spätestens zum 31. März 1953 zu verwirklichen.[53] Doch der Kampf um die Gleichstellung von Mann und Frau war damit noch lange nicht beendet, gab und gibt es auch noch weiterhin Ungleichheiten zwischen Mann und Frau in der Gesellschaft.

Elisabeth Selbert war allerdings selbst keine große Gelegenheit gegeben, an der Umsetzung des Art. 3, Abs.2 mitzuwirken. Sie kandidierte zwar für ein Mandat im ersten Bundestag, konnte aber die notwendigen Stimmen nicht erlangen. Auch eine Nominierung zur ersten Richterin am Bundesverfassungsgericht blieb der „Staatsrechtlerin aus Passion“ verwehrt.[54] Es mangelte ihr dabei an der Unterstützung aus der eigenen Partei. Zwar nahm sie nie öffentlich dazu Stellung, doch wurde weder sie selbst noch ihre Dissertation bei der Reformierung des Ehe- und Familienrechts in den 70er Jahren zu Rate gezogen. Möglicherweise war es ihre hohe juristische und politische Kompetenz, ihr direkter Diskussionsstil und ihr Scharfsinn, der sie zu einer Art Frau machte, die man in jener Zeit nicht gerne unterstützen mochte. Dazu gab es nicht wenige Menschen, die sich schwer taten mit klugen, selbstbewussten, niemals verbindlich lächelnden Frauen.

Ab Mitte der 1950er Jahre begann sich Elisabeth Selbert aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.[55] Dennoch erhielt sie im Jahr 1956 vom hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn anlässlich ihres 60. Geburtstags das große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland[56], und nachdem sie ihr Mandat im hessischen Landtag 1958 nicht mehr ausübte, widmete sie sich ganz ihrer Tätigkeit in der Kanzlei und ihrem Mann. Adam Selbert, der seit der Kriegszeit an Diabetes litt, starb 1965 hochgeehrt in Kassel.[57]

Zwar erhielt Elisabeth Selbert immer wieder im Zusammenhang mit Jubiläen des Grundgesetzes Einladungen und Empfänge und auch die Kasseler Lokalzeitungen berichten des Öfteren über sie, aber auf Bundesebene sowie innerhalb der SPD erweckte sie kaum noch Interesse. Erst als sich am 23. Mai 1969 das Inkrafttreten des Grundgesetzes zum 20. Male jährte, erinnert sich ihre Heimatstadt an die berühmte Tochter. Aus der Hand des Oberbürgermeisters Karl Branner erhält sie den Wappenring der Stadt Kassel. Sieben Jahre später wird sie von Oberbürgermeister Hans Eichel zu einem Geburtstagsempfang geladen und wird von diesem nicht nur für ihren Verdienst an der Sache der Frauen, sondern für ihren Verdienst an der Allgemeinheit hervorgehoben.

Endlich, am 1. Dezember 1978 würdigt auch das Land Hessen die Verdienste der Landestochter und Verfassungsrechtlerin mit der Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille.[58] Fünf Jahre später ruft der hessische Ministerpräsident Holger Börner einen nach Elisabeth Selbert benannten Preis ins Leben, der ihren Verdienst im Bewusstsein der Öffentlichkeit wachhalten soll. Hierzu wird die nunmehr 87-jährige Elisabeth Selbert im Jahr 1983 von Holger Börner ins Schloss Wilhelmshöhe eingeladen, wobei ihr der Ministerpräsident seinen Dank für ihr „großartiges Lebenswerk“ ausspricht.[59]

In der Zwischenzeit verbringt die Juristin ihre Zeit neben der Tätigkeit in der Kanzlei in ihrem Haus am Brasselsberg, welches zum Treffpunkt für Familie und Freunde avanciert. Bis zu ihrem 85. Lebensjahr arbeitet Elisabeth Selbert noch im Anwaltsberuf, bevor sie ihren geliebten Beruf aufgeben muss. Der graue Star lässt sie immer schlechter sehen, auch das Lesen ist nicht mehr möglich. Darunter leidet sie sehr. Hinzu kommt, dass die Enkelkinder in alle Himmelsrichtungen zerstreut Beruf oder Studium nachgehen und viele Freunde und Vertraute bereits verstorben sind.

Der Kreis der ihr nahestehenden begrenzt sich auf ihre beiden Söhne mit deren Familien, das befreundete Ehepaar Fenner und Anneliese Kratzenberg, welche bis zu ihrem Tode bei ihr bleibt und sie umsorgt.[60] Kurz bevor Elisabeth Selbert fast neunzigjährig am 6. Juni 1986 in ihrer Heimatstadt verstarb, konnte sie trotz mancher Fehlschläge auf ein ungeheuer vielfältiges Leben zurückblicken. Es war ihr als Frau gelungen, ein größtenteils selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch ihr größter Verdienst bleibt für alle Zeit unvergessen, den Frauen den Weg für ein ebenso selbstbestimmtes Leben geebnet zu haben.[61]

 

[1]    Elisabeth Selbert, Und die Frauen? In: SPD Kassel (Hg.), Zehn Jahre Revolution, Kassel 1928, S. 22.

[2]       Joachim Tappe, Wilhelm Pfannkuch. In: www.spd-hessen-nord.de, URL: https://www.spd-hessen-nord.de/organisation/wilhelm-pfannkuch/ (Datum letzter Zugriff: 04.08.2021).

[3]       Barbara Böttger, Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990, S. 125. (Im Folgenden zitiert als: Böttger, Das Recht).

[4]       Sven Trösch/ Regina Haunhörst, Biografie Elisabeth Selbert. In: www.hdg.de, URL: https://www.hdg.de/lemo/biografie/elisabeth-selbert.html (Datum letzter Zugriff: 04.08.2021). (Im Folgenden zitiert als: Trösch/Haunhörst, Biografie).

[5]    Vgl. Trösch/Haunhörst, Biografie.

[6]    Vgl. Böttger, Das Recht, S. 125.

[7]    Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[8]    Antje Dertinger, Elisabeth Selbert. Eine Kurzbiografie, Wiesbaden 1986, S. 11. (Im Folgenden zitiert als: Dertinger, eine Kurzbiografie).

[9]    Erhard H.M. Lange, Elisabeth Selbert (SPD). Biografie, in: www.bpb.de,

URL:https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39146/elisabeth-selbert-spd (Datum letzter Zugriff: 04.08.2021). (Im Folgenden zitiert als: Lange, Elisabeth Selbert (SPD).

[10]   Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[11]   Vgl. Dertinger, Elisabeth Selbert, eine Kurzbiografie, S. 11.

[12]   Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[13]   Vgl. Böttger, Das Recht, S. 133.

[14]   Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[15]   Elke Barthel, Dr. Elisabeth Selbert, in: Sabine Köttelwesch/ Elke Böker/ Petra Mesic (Hgg.),11 Frauen, 11 Jahrhunderte, Kassel 2013, S. 154. (Im Folgenden zitiert als: Barthel, Dr. Elisabeth Selbert.).

[16]  Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[17]   Ohne Autor, Elisabeth-Selbert-Preis. In: www.soziales.hessen.de, URL: https://soziales.hessen.de/familie-soziales/frauen/elisabeth-selbert-preis (Datum letzter Zugriff: 04.08.2021).

[18]   Heike Drummer/ Jutta Zwilling, Ein Glücksfall für die Demokratie. Elisabeth Selbert (1896-1986) Die große Anwältin der Gleichberechtigung, 2.Aufl, Wiesbaden 2008, S. 45-46. (Im Folgenden zitiert als: Drummer/ Zwilling, Ein Glücksfall.).

[19]   Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[20]   Heike Drummer/ Jutta Zwilling, Selbert, geborene Rohde, Martha Elisabeth. Leben, in: www.deutsche-biographie.de, URL: https://www.deutsche-biographie.de/sfz121061.html (Datum letzter Zugriff: 04.08.2021). (Im Folgenden zitiert als: Drummer/ Zwilling, Selbert, geborenen Rohde.).

[21]   Vgl. Barthel, Dr. Elisabeth Selbert, S. 156.

[22]   Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[23]   Vgl. Barthel, Dr. Elisabeth Selbert, S. 156.

[24]   Vgl. Böttger, Das Recht, S. 162.

[25]   Vgl. Dertinger, Eine Kurzbiografie, S. 18.

[26]   Vgl. Trösch/ Haunhörst, Biografie.

[27]   Vgl. Lange, Elisabeth Selbert (SPD).

[28]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Ein Glücksfall, S. 62.

[29]   Dagmar Jank: Die Frauenrechtlerinnen Minna Cauer (1841-1922) und Elisabeth Selbert (1896-1986), in: Helene Klein / Klaus Krone (Hg.): civitas. Denkimpulse und Vorbilder, Potsdam 2003, S. 50.

[30]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Selbert, geborene Rohde.

[31]   Vgl. Lange, Elisabeth Selbert (SPD).

[32]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Ein Glücksfall, S. 72.

[33]   Vgl. Drummer/Zwilling, Ein Glücksfall, S. 86.

[34]   Vgl. Drummer/Zwilling, Ein Glücksfall, S. 87-88.

[35]   Vgl. Drummer/Zwilling, Ein Glücksfall, S. 90.

[36]   Antje Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben. Elisabeth Selbert, (Blickpunkt Hessen, Nr.23/2017), Wiesbaden 2017, S. 13-14. (Im Folgenden zitiert als: Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben).

[37]   Heike Drummer/ Jutta Zwilling, Elisabeth Selbert (1896-1986), in: Einheit und Freiheit. Hessische Persönlichkeiten und der Weg zur Bundesrepublik Deutschland, Bernd Heidenreich/ Walter Mühlhausen (Hgg.), Wiesbaden 2000, S. 137. (Im Folgenden zitiert als: Drummer/ Zwilling, Elisabeth Selbert, Einheit und Freiheit.).

[38]   Vgl. Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben, S. 14.

[39]   Vgl. Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben, S. 15.

[40]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Elisabeth Selbert, Einheit und Freiheit, S. 138.

[41]   Karin Gille-Linne, Abgelehnt! Wie die Gleichberechtigung dennoch ins Grundgesetz kam und welche Rolle die Juristin Elisabeth Selbert dabei spielte, in: Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen. Eine unvollendete Geschichte, Hans Eichel/ Barbara Stolterfoht (Hgg.), (Die Region trifft sich-die Region erinnert sich), Kassel 2015, S. 27-28. (Im Folgenden zitiert als: Gille-Linne, Abgelehnt!).

[42]   Vgl. Drummer/Zwilling, Elisabeth Selbert, Einheit und Freiheit, S. 139.

[43]   Vgl. Drummer/Zwilling, Elisabeth Selbert, Einheit und Freiheit, S. 140.

[44]   Vgl. Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben, S. 16.

[45]   Vgl. Gille-Linne, Abgelehnt!, S. 30-31.

[46]   Vgl. Drummer/Zwilling, Ein Glücksfall, S. 96-97.

[47]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Ein Glücksfall, S. 101.

[48]   Vgl. Gille-Linne, Abgelehnt!, S. 32.

[49]   Vgl. Gille-Linne, Abgelehnt!, S. 33.

[50]   Cornelia Wenzel/ Kerstin Wolff, Dr. Elisabeth Selbert. In: www.digitales-deutsches-Frauenarchiv.de, URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/elisabeth-selbert#actor-content-about (Datum letzter Zugriff: 24.08.2021). (Im Folgenden zitiert als: Wenzel/Wolff, Dr. Elisabeth Selbert).

[51]   Vgl. Gille-Linne, Abgelehnt!, S. 34.

[52]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Elisabeth Selbert. Einheit und Freiheit, S. 149-150.

[53]   Vgl. Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben, S. 17.

[54]   Vgl. Wenzel/Wolff, Dr. Elisabeth Selbert.

[55]   Vgl. Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben, S. 20.

[56]   Erinnerungen an eine große Sozialdemokratin: Elisabeth Selbert, in: Ein Glücksfall für die Demokratie. Elisabeth Selbert (1896-1986) Die große Anwältin der Gleichberechtigung, 2.Aufl, Wiesbaden 2008, S. 198.

[57]   Vgl. Dertinger, Ein ermutigendes Frauenleben, S. 20.

[58]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Ein Glücksfall, S. 142.

[59]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Ein Glücksfall, S. 143.

[60]   Susanne Selbert, Das Haus am Brasselsberg, in: Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen. Eine unvollendete Geschichte, Hans Eichel/ Barbara Stolterfoht (Hgg.), (Die Region trifft sich-die Region erinnert sich), Kassel 2015, S. 87.

[61]   Vgl. Drummer/ Zwilling, Elisabeth Selbert. Einheit und Freiheit, S. 160.